Über uns – 70 Jahre Wiener Gewerkschaftsschule

Die Wiener Gewerkschaftsschule: gestern – heute – morgen

Eine Ausbildung, die siebzig Jahre auf den Schultern trägt und deren Bedeutung sich über die Jahre gewandelt und mit Engagement immer wieder neuen politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen gestellt hat, kann mit Stolz als erfolgreich bezeichnet werden. Die Wiener Gewerkschaftsschule ist mit ihren Anfängen in der Ersten Republik und mit ihrer Neubegründung 1947 eine der ältesten gewerkschaftlichen Ausbildungen in Österreich. Tief mit den Veränderungen der österreichischen Gesellschaft verwurzelt, hat sich die Gewerkschaftsschule, auch durch ihre Ausweitung auf alle Bundesländern, als ein historisches Standbein der österreichischen Gewerkschaftsbewegung etabliert, dem es trotzdem nicht an Dynamik fehlt.

Nach dem Durchlaufen einiger Veränderungen hat sich die Wiener Gewerkschaftsschule heute als ein Abendlehrgang etabliert, der zwei Jahre dauert und an zwei Abenden pro Woche zuzüglich einiger Wochenenden stattfindet. Der Lehrgang ist offen für ArbeitnehmervertreterInnen, genauso wie für an gewerkschaftspolitischer Arbeit interessierte Mitglieder. Das Programm ist vielfältig und deckt wichtige Aspekte von Arbeits- und Sozialrecht, Gewerkschafts- und Gesellschaftskunde, sowie Soziale und Wirtschaftskompetenzen ab.  

Der Erfolg der Gewerkschaftsschule ist einerseits dem Engagement vieler Menschen zu verdanken, angefangen bei den TeilnehmerInnen, den TrainerInnen, den Lehrgangscoaches, ÖGB-MitarbeiterInnen, Gewerkschafts- und BildungssekretärInnen, bis hin zu führenden FunktionärInnen; andererseits ist es die pädagogische und politische Ausrichtung dieser Ausbildung, die ihr diesen Stellenwert einräumt.

Mut zum Lernen

Entgegen traditioneller Schulerfahrungen lädt die Gewerkschaftsschule dazu ein, den Rahmen der Ausbildung zu nutzen, um sich selbst beispielsweise im Reden, im Schreiben oder im Lösen von Rechtsfällen auszuprobieren, ohne Angst vor Fehlern. Diese werden vielmehr als Lerngegenstand betrachtet, die den TeilnehmerInnen die Chance bieten, über sich selbst hinauszuwachsen. Sich auf diese Weise selbst zu begegnen und den Mut aufzubringen, im Laufe der zwei Jahre an sich zu arbeiten, tragen zu einer tiefen Persönlichkeitsentwicklung bei.

Selbstbewusstsein stärken

Seitens der TeilnehmerInnen sind widerfahrene Ungerechtigkeiten oder überfordernde Situationen im Betrieb oft der Antrieb, die Gewerkschaftsschule zu besuchen. Unrecht ist dabei mehr ein Gefühl, denn eine Gewissheit. In dieser Situation für die Interessen der ArbeitnehmerInnen einzutreten ist dabei mehr als herausfordernd. In der Gewerkschaftsschule wird diese Vagheit ersetzt durch Wissen über klare rechtliche Bestimmungen und gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Zusammenhänge, sowie durch Sicherheit im Auftreten. Somit können die TeilnehmerInnen nach diesen zwei Jahren viel selbstbewusster und sicherer ihre Aufgaben als ArbeitnehmervertreterInnen und engagierte Gewerkschaftsmitglieder wahrnehmen.

Lernen mit allen Sinnen

Jeder Mensch ist verschieden und in dieser Unterschiedlichkeit findet auch Lernen statt. So kann das Lauschen eines Vortrags für die einen interessanter sein, für andere das eigenständige Erarbeiten von Themen in Kleingruppen und für dritte das Hineinversetzen in andere Perspektiven mittels Rollenspiel. Die Gewerkschaftsschule steht für verschiedene Lernformen und eine Mischung aus unterschiedlichsten Methoden, die alle Sinne ansprechen sollen, um so Lernen möglichst nachhaltig zu gestalten. Mit dem Einzug digitaler Medien in sämtliche Lebensbereiche, sehen wir auch das Einbeziehen virtueller und digitaler Instrumente als willkommenen und zukunftsweisenden Lerngegenstand.

Sicherheit geben

Verunsicherung und das Suchen nach einem Platz in dem neuen Lehrgang stehen oft zu Beginn der Ausbildung. Um die neuen TeilnehmerInnen zu einer Gruppe zusammenwachsen zu lassen, werden sie von den Lehrgangscoaches begleitet, die ihnen so ermöglichen, auch durch die Gemeinschaft zu lernen. Über die zwei Jahre bestärken sie die TeilnehmerInnen in ihren Lernerfahrungen und haben auch sonst ein offenes Ohr für ihre Anliegen. Sie geben ihnen die Sicherheit zur richtigen Zeit, am richtigen Ort zu sein und ermöglichen ihnen damit, sich positiv auf die neue Ausbildung einzulassen.

Jede Erfahrung zählt

Die Gewerkschaftsschule lebt von den Erfahrungen der TeilnehmerInnen in ihrer Arbeits- und Lebenswelt. Sie werden bewusst in den Lernprozess geholt und als inhaltlicher Gegenstand betrachtet. Das Zusammentreffen unterschiedlichster Erfahrungen und Persönlichkeiten kann herausfordernd sein, gleichzeitig eröffnet sich damit ein spezieller Raum zum Lernen. Im Austausch über diese vielfältigen Aspekte wird einerseits erkannt, dass es wichtig ist, mit dieser Diversität umzugehen, die für alle neue Erkenntnisse beinhalten, andererseits bedeutet es auch, ähnliche Erfahrungen zu entdecken, die vielleicht nur in einem anderen Gewand daherkommen. So kann beispielsweise der gegenseitige Austausch erhellend sein, wenn eine erfahrene Ungerechtigkeit, die als persönliches Problem betrachtet wurde, von anderen geteilt wird und eine größere Systematik dahinter zum Vorschein tritt.

Solidarität lernen

Um für andere einzutreten, muss Solidarität zunächst auch selbst erfahren werden. Gerade durch das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Persönlichkeiten und das Erlernens eines respektvollen Umgangs miteinander, bietet die Gewerkschaftsschule einen idealen Rahmen, um Solidarität auch selbst zu erleben. Im voneinander und miteinander Lernen wird eine solidarische Haltung gestärkt, die als Grundfeste der Gewerkschaftsbewegung weit über den Raum der Gewerkschaftsschule hinausgeht und für die AbsolventInnen eine wichtige Wegbegleiterin bleibt.

Aus der Praxis für die Praxis

Die TeilnehmerInnen stehen auch während der Ausbildung im Berufsleben, was zeitweise für diese ermüdend sein kann, weil die Gedanken und Energien oft im Arbeitsalltag verhaftet bleiben und der Kopf nicht immer für Neues frei ist. Dennoch ist gerade diese Konstellation auch sehr bereichernd, denn die unmittelbar in der Arbeitswelt gemachten Erfahrungen werden in der Gewerkschaftsschule zu Lerngegenständen. In der Gruppe werden sie bearbeitet und reflektiert, um die daraus gezogenen Überlegungen wieder in die Praxis zu übersetzen. Lernen passiert somit aus der Praxis und für die Praxis und ist damit immer im unmittelbaren Alltagsleben verwurzelt.

Lernen an Beispielen

Anknüpfungspunkt sind somit immer die aus dem Alltag entspringenden Erfahrungen. Auf diese Weise wird an Beispielen gelernt, wie komplex Themen miteinander verknüpft sind. Nicht eine breite Palette an Wissen anzuhäufen ist die Devise, sondern an Beispielen aus der Praxis vernetzendes Denken und Handeln zu lernen.

Wissen zu Handeln

In der Gewerkschaftsschule geht es auch darum, zu wissen, welche Handlungen in welchen Situationen am passensten sind, um die Interesse der ArbeitnehmerInnen bestmöglich zu vertreten. In einem weiteren Schritt wird die Rolle der ArbeitnehmervertreterInnen und GewerkschafterInnen in Betrieb und Gesellschaft reflektiert. Um Mitbestimmung zu leben, genügt es nicht das Mindestmaß an Pflichtaufgaben zu erfüllen, sondern sich aktiv in die Belange der ArbeitnehmerInnen einzumischen und mit ihnen für die Verbesserung der Arbeits- und Lebenssituation zu kämpfen. 

Wir sind Teil der Gesellschaft

Die Gewerkschaftsschule ist kein abgekapselter Raum, der für sich stehen kann. Die TeilnehmerInnen haben in ihrer Arbeits- und Lebenswelt mit konstanten Veränderungen zu tun. Sie in der Gewerkschaftsschule zum Thema zu machen, ist daher zentral, denn politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Wandel geht uns alle an. Ob als Bildung zur Demokratie nach ihrer Neubegründung 1947 oder als Aufruf zur gemeinsamen Mitbestimmung im heutigen Zeitalter der Digitalisierung, trägt die Gewerkschaftsschule immer zu einer verantwortungsvollen Gestaltung von Gesellschaft bei.

In der Welt zu Hause

Auch wenn der unmittelbare Lebensalltag der Ausgangspunkt der Lernerfahrung der TeilnehmerInnen ist, so ist er nicht ihr Endpunkt. Die Gewerkschaftsschule setzt es sich bewusst zum Ziel, auch über die unmittelbare Erfahrungswelt hinauszugehen und in größeren Zusammenhängen denken und handeln zu lernen; zu verstehen, wie Gesellschaft, Politik und Wirtschaft miteinander verknüpft sind. Blicke über den Tellerrand und staune!

Bildung ist politisch

Als Bildungseinrichtung des ÖGB/VÖGB ist die Gewerkschaftsschule in ihrem Selbstverständnis grundpolitisch und parteiisch im Sinne der ArbeitnehmerInnen. Sie ist ein Teil der Gewerkschaftsbewegung und als solches trägt sie diese Positionen mit. Die Gewerkschaftsschule bietet zudem einen Raum, um - basierend auf den Erfahrungen aus der Arbeits- und Lebenswelt - konstruktive Rückmeldung an die Gewerkschaftsorganisation zu geben, die diese im Sinne einer lernenden Organisation aufnimmt. An gemeinsamen Zielen festzuhalten und das Bemühen zu ihrer bestmöglichen Erfüllung beizutragen, heißt auch hier für Gewerkschaft einzutreten und sie mitzugestalten.  

Engagement zeigen    

Allein anhand der Tatsache, dass die TeilnehmerInnen sich über zwei Jahre freiwillig an zwei Abenden pro Woche und noch an einigen Wochenenden fortbilden, beweist ihr hohes Engagement. Dabei zeigen sie in ihrem unermüdlichen Einsatz für die Belange der ArbeitnehmerInnen mit welcher Leidenschaft, sie für eine gerechtere Welt eintreten. So bleiben auch viele von ihnen nach Absolvierung der Gewerkschaftsschule der Bewegung als AktivistInnen treu.  

 

Die Gewerkschaftsschule zeigt somit tagtäglich, dass sie sich als Bildungseinrichtung immer wieder neu erfinden kann. Und auch jetzt, 70 Jahre nach ihrer Neugründung, nimmt sie sich der Herausforderungen der heutigen Zeit an, seien es politische, ökologische oder technologische. Sie rüstet sich dafür, auch morgen Menschen für soziale Gerechtigkeit zu bilden.

 

Sabine Letz, Geschäftsführerin d. VÖGB
Christine Esterbauer, Leiterin d. Wiener Gewerkschaftsschule